Die Wulfilabibel (auch Wulfila-Bibel) ist die älteste bekannte Übersetzung der Bibel in eine germanische Sprache und eine der frühesten schriftlichen Zeugnisse des Gotischen. Sie wurde im 4. Jahrhundert von Wulfila, dem Bischof der Westgoten, angefertigt, um den christlichen Glauben unter den Goten zu verbreiten. Die Übersetzung, die heute nur in Teilen erhalten ist, gilt als eines der bedeutendsten Dokumente der germanischen Sprachgeschichte und als zentraler Text für das Studium des Gotischen und der ostgermanischen Sprachen.
Historischer Hintergrund
Die Wulfilabibel entstand in einer Zeit großer politischer und religiöser Umwälzungen. Die Goten, ein ostgermanisches Volk, waren im Zuge der Völkerwanderung nach Südosteuropa vorgedrungen und standen in engem Kontakt mit dem Römischen Reich. Unter dem Einfluss des arianischen Christentums, das vom römischen Kaiser Konstantin im frühen 4. Jahrhundert gefördert wurde, konvertierten viele Goten zum Christentum. Wulfila, der um 311 geboren wurde und möglicherweise teilweise kappadokischer Herkunft war, spielte eine zentrale Rolle bei der Bekehrung der Westgoten.
Wulfila wurde im Jahr 341 zum Bischof der gotischen Christen geweiht und bemühte sich, den christlichen Glauben unter den Goten zu verbreiten. Die Übersetzung der Bibel ins Gotische war ein wichtiger Teil seiner Mission, da viele Goten nicht des Griechischen oder Lateinischen mächtig waren. Wulfila wählte das Gotische als Sprache seiner Bibelübersetzung, um den gotischen Stämmen den Zugang zu den heiligen Schriften zu erleichtern. Dabei folgte er dem Vorbild früherer christlicher Übersetzungen, wie der lateinischen Vulgata, die es zum Ziel hatte, die Bibel für nicht-griechischsprachige Christen zugänglich zu machen.
Die gotische Sprache und das Alphabet
Vor der Arbeit Wulfilas gab es keine schriftlichen Zeugnisse der gotischen Sprache. Um die Bibel in die Sprache der Goten zu übertragen, entwickelte Wulfila ein eigenes gotisches Alphabet. Es basierte teilweise auf dem griechischen Alphabet, enthielt jedoch auch einige Zeichen, die aus dem lateinischen und dem Runenalphabet übernommen wurden. Das gotische Alphabet war speziell darauf ausgelegt, die Laute der gotischen Sprache präzise darzustellen, da weder das griechische noch das lateinische Alphabet dafür vollständig geeignet waren.
Die gotische Sprache gehört zum ostgermanischen Zweig der germanischen Sprachfamilie, die heute ausgestorben ist. Das Gotische, wie es in der Wulfilabibel überliefert ist, ist die einzige germanische Sprache, die im Laufe der Zeit in schriftlicher Form dokumentiert wurde. Dank der Wulfilabibel können Sprachwissenschaftler die Struktur des Gotischen untersuchen und Rückschlüsse auf die Entwicklung der germanischen Sprachen im Allgemeinen ziehen.
Umfang der Übersetzung
Die Wulfilabibel war ursprünglich eine vollständige Übersetzung der gesamten Bibel ins Gotische. Allerdings sind nur Teile davon erhalten geblieben, insbesondere Fragmente des Neuen Testaments. Es wird angenommen, dass Wulfila das Alte Testament aufgrund seiner Länge und Komplexität nur teilweise oder gar nicht vollständig übersetzte. Von der Übersetzung des Neuen Testaments existieren heute größere Teile der Evangelien sowie einige Briefe des Paulus.
Die erhaltenen Manuskripte der Wulfilabibel stammen aus verschiedenen Handschriften, die im Mittelalter kopiert und verbreitet wurden. Die bekannteste und bedeutendste dieser Handschriften ist der sogenannte Codex Argenteus, eine prächtig verzierte Handschrift, die vermutlich im 6. Jahrhundert in Italien angefertigt wurde. Der Codex Argenteus enthält weite Teile der Evangelien und ist aufgrund seiner kunstvollen Gestaltung – mit silberner Tinte auf purpurfarbenem Pergament – ein einzigartiges Beispiel für die spätantike Buchkunst. Heute wird der Codex Argenteus in der Universitätsbibliothek von Uppsala in Schweden aufbewahrt.
Inhaltliche und sprachliche Merkmale
Die Wulfilabibel ist nicht nur von philologischer Bedeutung, sondern auch ein wichtiges Dokument für das Verständnis der kulturellen und religiösen Geschichte der Goten. Wulfila, der als Anhänger des Arianismus tätig war, verwendete seine Bibelübersetzung, um den arianischen Glauben unter den Goten zu verbreiten. Der Arianismus war eine christliche Glaubensrichtung, die die Göttlichkeit Jesu Christi in einer vom orthodoxen Christentum abweichenden Weise interpretierte. Wulfila übersetzte die Bibeltexte vermutlich mit Bedacht auf diese theologische Perspektive, was sich in einigen Wortwahlen und Interpretationen niederschlägt.
Sprachlich zeichnet sich die Wulfilabibel durch die Klarheit und Präzision der Übersetzung aus. Wulfila bemühte sich, die gotische Sprache so zu gestalten, dass sie dem griechischen Original möglichst nahekam, ohne jedoch die Verständlichkeit für die gotischen Gläubigen zu gefährden. Viele der theologischen Begriffe wurden aus dem Griechischen übernommen oder neu geprägt, da das Gotische für einige der komplexen Konzepte des Christentums keine direkten Entsprechungen hatte.
Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Übersetzung des griechischen Begriffs „logos“ aus dem Johannesevangelium. Während das griechische „logos“ sowohl „Wort“ als auch „Vernunft“ bedeuten kann, entschied sich Wulfila dafür, den Begriff im gotischen Text als „wairds“ (Wort) zu übersetzen, was dem deutschen „Wort“ entspricht. Diese Übersetzung zeigt die Herausforderung, theologische Konzepte in eine Sprache zu übertragen, die für solche Begriffe noch keine etablierte Tradition besaß.
Überlieferung und Bedeutung für die Sprachwissenschaft
Die Wulfilabibel ist das bedeutendste überlieferte Werk in der gotischen Sprache und das älteste bekannte Dokument in einer germanischen Sprache. Sie spielt daher eine zentrale Rolle in der historischen Sprachwissenschaft, insbesondere für die Erforschung der germanischen Sprachen und ihrer Entwicklung. Da das Gotische zu den ostgermanischen Sprachen gehört, die heute ausgestorben sind, bietet die Wulfilabibel eine einmalige Quelle, um die Struktur und den Wortschatz dieser Sprachgruppe zu analysieren.
Neben der Wulfilabibel sind nur wenige weitere Texte in gotischer Sprache erhalten, darunter einige liturgische Texte und Fragmente. Die Wulfilabibel bleibt jedoch das umfangreichste und am besten dokumentierte Werk in dieser Sprache. Die überlieferten Manuskripte der Wulfilabibel ermöglichen es Sprachwissenschaftlern, die Entwicklung der germanischen Sprachen besser zu verstehen und Rückschlüsse auf die sprachlichen Strukturen des Urgermanischen zu ziehen, aus dem sich das Gotische entwickelt hat.
Der Erhaltungszustand der Wulfilabibel ist teilweise auf die Verbreitung der gotischen Bibel in den Gebieten des Oströmischen Reiches zurückzuführen. Nach dem Zerfall des gotischen Königreichs im Westen überlebte das Werk in Klöstern und Bibliotheken des Oströmischen Reiches, insbesondere im Bereich des heutigen Italien und Griechenland.
Die Wulfilabibel und das Christentum der Goten
Die Bedeutung der Wulfilabibel geht über ihre sprachwissenschaftliche Relevanz hinaus. Sie spielte eine zentrale Rolle bei der Verbreitung des Christentums unter den Goten und anderen germanischen Stämmen. Wulfila, der selbst Arianer war, übersetzte die Bibel im Kontext des arianischen Christentums, das sich in den germanischen Reichen verbreitete. Der Arianismus, der die Gottheit Jesu in einer vom römischen Katholizismus abweichenden Weise interpretierte, war unter den germanischen Stämmen weit verbreitet, bevor sie schließlich zum katholischen Christentum konvertierten.
Die Wulfilabibel trug dazu bei, dass das Christentum unter den Goten und anderen germanischen Stämmen Fuß fassen konnte, da sie es den germanischen Völkern ermöglichte, die Heiligen Schriften in ihrer eigenen Sprache zu lesen und zu verstehen. Dies hatte weitreichende Auswirkungen auf die kulturelle und religiöse Entwicklung der germanischen Reiche, die im Laufe der Jahrhunderte eine wichtige Rolle in der europäischen Geschichte spielten.
Analyse
Die Wulfilabibel ist ein außergewöhnliches Werk von immensem sprachlichem, religiösem und kulturellem Wert. Sie stellt nicht nur die älteste Bibelübersetzung in eine germanische Sprache dar, sondern ist auch eines der wenigen erhaltenen Dokumente der ostgermanischen Sprachen. Ihre Bedeutung für die Geschichte des Christentums und der germanischen Stämme kann kaum überschätzt werden. Die Wulfilabibel ist heute ein zentrales Studienobjekt der historischen Sprachwissenschaft und liefert wichtige Einblicke in die Entwicklung der germanischen Sprachen, die Missionierung der Germanen und die Verbreitung des Christentums in Europa.
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Siehe auch
- Gotische Sprache
- Gotische Literatur
- Wulfila
- Gotische Schriften
- Gotische Schrift (4. Jahrhundert)
Geschichtswissenschaftliche Nachschlagewerke
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Literatur
- Wolfgang Krause: Handbuch des Gotischen. Handbücher für das germanistische Studium, C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1963, 2., verbesserte Auflage – mit Textproben aus verschiedenen Handschriften und mit umfangreichem Wörterverzeichnis.
- Frederick Lauritzen: Nonnos and Wulfila. In: Parekbolai. 9, 2019, S. 19–30.
- Frederick Lauritzen: The gothic Psalter between Crimea and Bologna. In: Revue des Etudes Tardo-Antiques. 9, 2019, S. 109–120.
- Wilhelm Streitberg (Hrsg.): Die Gotische Bibel. Erster Teil. Der gotische Text und seine griechische Vorlage. Mit Einleitung, Lesarten und Quellennachweisen sowie den kleinern Denkmälern als Anhang, Carl Winter's Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1908
- Elfriede Stutz: Das Neue Testament in Gotischer Sprache. In: Die alten Übersetzungen des Neuen Testaments, die Kirchenväterzitate und Lektionare – Der gegenwärtige Stand ihrer Erforschung und ihre Bedeutung für die griechische Textgeschichte: Kurt Aland (Hrsg.). Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung. 5. Auflage, De Gruyter, Berlin/Boston 1972 (Reprint 2011). ISBN 978-3-11-082701-9, S. 375–402.
- Piergiuseppe Scardigli: Frühe Bibelübersetzungen: Gotisch. In: Harald Kittel (Hrsg.) Übersetzung-Translation-Traduction: An International Encyclopedia of Translation Studies. Mouton de Gruyter, Berlin/New York 2007, ISBN 978-3-11-020328-8, S. 2363–2366 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 26, 2)
- Ingeborg Poppe: Das Johannes-Evangelium des Gotenbischofs Wulfila. Aus dem Gotischen übersetzt und erläutert von I. Poppe. I. Teil: Wulfilas Johannes-Evangelium ins Deutsche übersetzt / II. Teil: Sprachliche Besonderheiten im gotischen Johannes-Evangelium Wulfilas. Edition Immanente, Berlin 2022, ISBN 978-3-942754-67-5, 128 S.
Weblinks
- Text der Wulfilabibel — Sehr übersichtlich dargestellt, auch mit Übersetzungen in Altgriechisch und Englisch.
- Übersicht der verschiedenen Handschriften der Wulifila-Bibel
- Kleinere gotische Fragmente
- Digitalisat des Codex Argenteus im schwedischen Portal für Kulturerbe-Sammlungen, alvin-record:60279
- Codex Argenteus — Einzelseiten des Originalmanuskriptes als Digitalisat
- Digitale Rekonstruktion des Codex Argenteus: Matthäus-Evangelium — Sehr gut lesbar!
- rlp.museum-digital.de: Speyer-Fragment
- Germanen: Germanische Sprachen | planet wissen (Erstveröffentlichung 2003. Letzte Aktualisierung am 9.Juni 2020.)