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In der [[Psychologie]] und [[Soziologie]] bezeichnet <strong>soziale Trägheit</strong> den Widerstand gegen Veränderung in Gesellschaften oder sozialen Gruppen sowie die Ausdauer von stabilen Beziehungen. Soziale Trägheit bezeichnet das Gegenteil von [[Sozialer Wandel|sozialem Wandel]].
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In der [[Psychologie]] und [[Soziologie]] bezeichnet '''soziale Trägheit''' den Widerstand gegen Veränderung in Gesellschaften oder sozialen Gruppen sowie die Ausdauer von stabilen Beziehungen. Soziale Trägheit bezeichnet das Gegenteil von [[Sozialer Wandel|sozialem Wandel]].
   
 
== Übersicht ==
 
== Übersicht ==
Die Idee der sozialen Trägheit lässt sich auf den französischen Soziologen [[Pierre Bourdieu]] zurückführen. Nach Bourdieu besetzt jede Person eine Position in einem sozialen Raum, welcher aus ihrer sozialen Schicht sowie aus den sozialen Beziehungen und sozialen Netzwerken besteht. Durch das Engagement des Individuums im sozialen Raum entwickelt es eine Reihe von Verhaltensweisen, Lebensarten und Gewohnheiten (welche Bourdieu als [[Habitus]] bezeichnet), welche oft dazu dienen den [[Status quo]] aufrechtzuerhalten. Dadurch sind Menschen ermutigt "die soziale Welt zu akzeptieren wie sie ist, sie lieber für selbstverständlich zu halten, als dagegen zu rebellieren und sie mit ihren gegensätzlichen, sogar antagonistischen Möglichkeiten zu vergleichen." Dies kann die Kontinuität der sozialen Ordnung über die Zeit erklären. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Bourdieu, Pierre (November 1985). </cite></ref><ref><cite class="citation book" contenteditable="false">Swartz, David (2006). </cite></ref>
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Die Idee der sozialen Trägheit lässt sich auf den französischen Soziologen [[Pierre Bourdieu]] zurückführen. Nach Bourdieu besetzt jede Person eine Position in einem sozialen Raum, der aus ihrer sozialen Schicht sowie aus den sozialen Beziehungen und sozialen Netzwerken besteht. Durch das Engagement des Individuums im sozialen Raum entwickelt es eine Reihe von Verhaltensweisen, Lebensarten und Gewohnheiten (die Bourdieu als [[Habitus (Soziologie)|Habitus]] bezeichnet), die oft dazu dienen den [[Status quo]] aufrechtzuerhalten. Dadurch sind Menschen ermutigt „die soziale Welt zu akzeptieren wie sie ist, sie lieber für selbstverständlich zu halten, als dagegen zu rebellieren und sie mit ihren gegensätzlichen, sogar antagonistischen Möglichkeiten zu vergleichen.“<ref>{{Literatur|Autor=Pierre Bourdieu|Titel=The social space and the genesis of groups|Sammelwerk=Theory and Society|Band=14|Nummer=6|Verlag=|Jahr=1985|Monat=11|Tag=01|Seiten=723–744|ISSN=1573-7853|DOI=10.1007/BF00174048}}</ref> Dies kann die Kontinuität der sozialen Ordnung über die Zeit erklären.<ref name="Swartz">{{Literatur|Autor=David L. Swartz, Vera L. Zolberg|Titel=After Bourdieu: Influence, Critique, Elaboration|Verlag=Springer Science & Business Media|Ort=|Jahr=2006|Seiten=92|ISBN=1-4020-2589-0|Online=[http://books.google.com/books?id=bb6iw-xIGjcC&pg=PA92#v=onepage&q=inertia&f=false books.google.com]}}</ref>
   
Soziologen haben untersucht wie das wirtschaftliche und [[Kulturgut|kulturelle Erbe]] über Generationen weitergegeben wird, was zu starker sozialer Trägheit, selbst während Zeiten sozialen Fortschritts, führen kann. Im Besonderen fand Bourdieu in seinen Algerien-Studien, dass selbst in Zeiten von schnellem, wirtschaftlichem Wandel kulturelle und symbolische Faktoren die Flexibilität der Gesellschaft, sich rasch an den Wandel anzupassen, einschränkten. <ref><cite class="citation book" contenteditable="false">Swartz, David (2006). </cite></ref>
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Soziologen haben untersucht, wie das wirtschaftliche und [[Kulturgut|kulturelle Erbe]] über Generationen weitergegeben wird, was zu starker sozialer Trägheit, selbst während Zeiten sozialen Fortschritts, führen kann. Im Besonderen fand Bourdieu in seinen Algerien-Studien, dass selbst in Zeiten von schnellem, wirtschaftlichem Wandel kulturelle und symbolische Faktoren die Flexibilität der Gesellschaft, sich rasch an den Wandel anzupassen, einschränkten.<ref name="Swartz" />
   
Deshalb wurde soziale Trägheit benutzt um zu erklären, wie dominante soziale Schichten ihren Status und ihr Privileg über die Zeit aufrechterhalten. Momentan ist dies ein heiß diskutiertes Thema in den [[Vereinigte Staaten|Vereinigten Staaten]]. Während Präsident [[Barack Obama]] Amerikas Bekenntnis zur [[Chancengleichheit]] in seiner zweiten Antrittsrede beteuerte, glaubt [[Nobelpreisträger]] [[Joseph E. Stiglitz]] es sei ein Mythos, dass die moderne Gesellschaft [[Chancengleichheit]] und hohe [[soziale Mobilität]] durch Mechanismen wie [[Schulbildung]] bietet. <ref><cite class="citation news" contenteditable="false">Stiglitz, Joseph (February 16, 2013). </cite></ref>
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Deshalb wurde soziale Trägheit benutzt, um zu erklären, wie dominante soziale Schichten ihren Status und ihr Privileg über die Zeit aufrechterhalten. Momentan ist dies ein heiß diskutiertes Thema in den [[Vereinigte Staaten|Vereinigten Staaten]]. Während Präsident [[Barack Obama]] Amerikas Bekenntnis zur [[Chancengleichheit]] in seiner zweiten Antrittsrede beteuerte, glaubt [[Liste der Nobelpreisträger|Nobelpreisträger]] [[Joseph E. Stiglitz]] es sei ein Mythos, dass die moderne Gesellschaft [[Chancengleichheit]] und hohe [[soziale Mobilität]] durch Mechanismen wie [[Schule|Schulbildung]] bietet.<ref>{{cite news|last=|author=Joseph Stiglitz|title=Equal Opportunity, Our National Myth|url=http://opinionator.blogs.nytimes.com/2013/02/16/equal-opportunity-our-national-myth/?_r=0|accessdate=2013-12-09|newspaper=The New York Times|date=2013-02-16}}</ref>
   
 
== Beispiele ==
 
== Beispiele ==
   
 
=== In der Ehrenkultur ===
 
=== In der Ehrenkultur ===
Ein Beispiel sozialer Trägheit in der Kultur der Vereinigten Staaten ist die "Ehrenkultur" (culture of honor), welche in Teilen des Südens und des Westens existiert. In der Ehrenkultur wird [[Gewalt]] als akzeptabler Weg gesehen, um auf Kränkungen oder Gefahren des Selbst, der Familie, des Besitzes oder der [[Reputation]] einer Person zu antworten. Manche Psychologen und Historiker glauben, dass die Ehrenkultur als eine Art Zwangsordnung an der Grenze entstanden ist, als der Süden und der Westen erstmals besiedelt wurden und unzureichende [[Strafverfolgung]] und eine niedrige [[soziale Ordnung]] vorherrschten. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Cohen, Dov (1998). </cite></ref> Dieser Hypothese zufolge sollte Hüten (eine einsame Aktivität) stärker mit der Ehrenkultur verbunden sein als mit der Landwirtschaft (eine zusammenwirkende Aktivität). Dennoch haben manche Wissenschaftler keine Stützung dafür gefunden. Als Forscher die Beziehung zwischen landwirtschaftlichen Praktiken im ländlichen Süden und der weißen männlichen Mordrate in diesen Regionen untersuchten, fanden sie keine höheren Mordraten in hügeligen und trockenen Landkreisen, die aufgrund dessen besser geeignet waren für das Hüten im Vergleich zur Landwirtschaft. Sie schlossen daraus dass die Mordraten nicht die Hypothese Hüten vs. Landwirtschaft der Ehrenkultur stützten. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Chu, Rebecca; Rivera, C.; Loftin, C. (2000). </cite></ref> Deswegen wurden [[Religion]] und [[Armut]] als alternative Erklärungen für den Ursprung der Ehrenkultur vorgeschlagen. <ref>http://www.psychologytoday.com/blog/the-human-beast/200904/is-southern-violence-due-culture-honor Nigel Barber, "Is Southern violence due to a culture of honor?"</ref><ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Cohen, Dov (1998). </cite></ref>
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Ein Beispiel sozialer Trägheit in der Kultur der Vereinigten Staaten ist die „Ehrenkultur“ (“culture of honor”), die in Teilen des Südens und des Westens existiert. In der Ehrenkultur wird [[Gewalt]] als akzeptabler Weg gesehen, um auf Kränkungen oder Gefahren des Selbst, der Familie, des Besitzes oder der [[Reputation]] einer Person zu antworten. Manche Psychologen und Historiker glauben, dass die Ehrenkultur als eine Art Zwangsordnung an der Grenze entstanden sei, als der Süden und der Westen erstmals besiedelt wurden und unzureichende [[Strafverfolgung]] und eine niedrige [[soziale Ordnung]] vorherrschten.<ref name="Cohen">{{Literatur|Autor=Dov Cohen|Titel=Culture, social organization, and patterns of violence.|Sammelwerk=Journal of Personality and Social Psychology|Band=75|Nummer=2|Verlag=|Ort=|Jahr=1998|Seiten=408–419|DOI=10.1037/0022-3514.75.2.408}}</ref> Dieser Hypothese zufolge sollte Hüten (eine einsame Aktivität) stärker mit der Ehrenkultur verbunden sein als mit der Landwirtschaft (eine zusammenwirkende Aktivität). Dennoch haben manche Wissenschaftler keine Stützung dafür gefunden. Als Forscher die Beziehung zwischen landwirtschaftlichen Praktiken im ländlichen Süden und der weißen männlichen Mordrate in diesen Regionen untersuchten, fanden sie keine höheren Mordraten in hügeligen und trockenen Landkreisen, die aufgrund dessen besser geeignet waren für das Hüten im Vergleich zur Landwirtschaft. Sie schlossen daraus, dass die Mordraten nicht die Hypothese Hüten vs. Landwirtschaft der Ehrenkultur stützten.<ref>{{Literatur|Autor=Rebekah Chu, Craig Rivera, Colin Loftin|Titel=Herding and Homicide: An Examination of the Nisbett-Reaves Hypothesis|Sammelwerk=Social Forces|Band=78|Nummer=3|Verlag=|Jahr=2000|Monat=03|Tag=01|Seiten=971–987|ISSN=1534-7605|Online=[http://sf.oxfordjournals.org/content/78/3/971 oxfordjournals.org]|DOI=10.1093/sf/78.3.971}}</ref> Deswegen wurden [[Religion]] und [[Armut]] als alternative Erklärungen für den Ursprung der Ehrenkultur vorgeschlagen.<ref>Nigel Barber: [http://www.psychologytoday.com/blog/the-human-beast/200904/is-southern-violence-due-culture-honor ''Is Southern violence due to a culture of honor?'']auf psychologytoday.com.</ref><ref name="Cohen" />
   
 
=== In der schöpferischen Arbeit ===
 
=== In der schöpferischen Arbeit ===
In einem Artikel aus 2013 des Journal of Sociology wendete der Soziologe Scott Brook die Theorie der sozialen Trägheit auf das Feld der schöpferischen Arbeit an. Im speziellen war Brook damit befasst warum so viele Studenten dabeibleiben würden Abschlüsse im kreativen Bereich ([[Kunst]], [[kreatives Schreiben]])anzustreben, selbst wenn die Mehrheit der Arbeitskräfte der Meinung wäre dass viele Studenten nach dem Abschluss keine Anstellung in diesem Bereich finden würden. Selbst wenn sie in der Lage wären, eine Anstellung zu finden, würden sie weniger verdienen als Kollegen mit nicht-kreativen Studienabschlüssen. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Brook, Scott (2013). </cite></ref> Scott nutzte Bourdieus Auffassung der sozialen Trägheit um anzuregen, dass Studenten, die es zu der nicht-kommerziellen Natur des kreativen Bereich zog, aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status und ''Eltern mit gescheiterten Karrieren kamen. Die Studenten traten in die Fußstapfen der Eltern indem sie Studiengänge wählten die wenig wahrscheinlich zu Karrieren mit hohem Einkommen führen, somit führt dies zu sozialer Trägheit der Einkünfte über Generationen.''
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In einem Artikel aus 2013 des ''Journal of Sociology'' wendete der Soziologe Scott Brook die Theorie der sozialen Trägheit auf das Feld der schöpferischen Arbeit an. Im Speziellen war Brook damit befasst, warum so viele Studenten dabeibleiben, Abschlüsse im kreativen Bereich ([[Kunst]], [[kreatives Schreiben]]) anzustreben, selbst wenn die Mehrheit der Arbeitskräfte der Meinung ist, dass viele Studenten nach dem Abschluss keine Anstellung in diesem Bereich fänden. Selbst wenn sie in der Lage seien, eine Anstellung zu finden, verdienten sie weniger als Kollegen mit nicht-kreativen Studienabschlüssen.<ref>{{Internetquelle|autor=Scott Brook|url=http://jos.sagepub.com/content/49/2-3/309.full.pdf|hrsg=sagepub.com|titel=Social inertia and the field of creative labour|werk=|format=PDF|datum=2013|offline=|zugriff=2016-02-09|kommentar=Zugriff nur über Login}}</ref> Scott nutzte Bourdieus Auffassung der sozialen Trägheit um anzuregen, dass Studenten, die es zu der nicht-kommerziellen Natur des kreativen Bereich zog, aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status und „Eltern mit gescheiterten Karrieren kamen. Die Studenten traten in die Fußstapfen der Eltern indem sie Studiengänge wählten die wenig wahrscheinlich zu Karrieren mit hohem Einkommen führen, somit führt dies zu sozialer Trägheit der Einkünfte über Generationen“.
   
 
=== In Kollaborationen ===
 
=== In Kollaborationen ===
Soziale Trägheit wurde benutzt um die [[Zusammenarbeit]] und Interaktionen zwischen Menschen zu untersuchen. Im speziellen wurde soziale Trägheit als Maß für die fortbestehende Zusammenarbeit mit vorherigen Partnern und Mitgliedern eines Teams definiert. Eine Analyse von großformatigen, komplexen Netzwerken wie [[IMDb]] zeigte, dass zwei Arten von "extremen" Kollaborations-Verhaltensmustern öfter auftraten als durchschnittliches Verhalten - manche Menschen arbeiten wieder und wieder mit den selben Partnern zusammen, während andere ihre Partner häufig wechseln. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Ramasco, J.J. (2007). </cite></ref>
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Soziale Trägheit wurde benutzt, um die [[Kooperation|Zusammenarbeit]] und Interaktionen zwischen Menschen zu untersuchen. Im Speziellen wurde soziale Trägheit als Maß für die fortbestehende Zusammenarbeit mit vorherigen Partnern und Mitgliedern eines Teams definiert. Eine Analyse von großformatigen, komplexen Netzwerken wie der [[Internet Movie Database]] zeigte, dass zwei Arten von „extremen“ Kollaborations-Verhaltensmustern öfter auftraten als durchschnittliches Verhalten manche Menschen arbeiten wieder und wieder mit den selben Partnern zusammen, während andere ihre Partner häufig wechseln.<ref>{{Literatur|Autor=J. J. Ramasco|Titel=Social inertia and diversity in collaboration networks|Sammelwerk=The European Physical Journal Special Topics|Band=143|Nummer=1|Verlag=|Jahr=2007|Monat=04|Tag=01|Seiten=47–50|ISSN=1951-6355|DOI=10.1140/epjst/e2007-00069-9}}</ref>
   
 
=== In Einstellungen und Einstellungsänderungen ===
 
=== In Einstellungen und Einstellungsänderungen ===
Psychologische Studien über [[Einstellung (Psychologie)|Einstellungen]] und Einstellungsänderung fanden heraus, dass Teilnehmer selbst dann unwillig sind, ihr Vertrauen in eine Annahme zu verringern, wenn sie neue Informationen erhalten die gegen ihre ursprüngliche Annahme sprechen. Forscher postulierten dass dieser "Trägheits-Effekt" auf den psychologischen Bekenntnissen der Teilnehmer zu ihren anfänglichen Urteilen basiert. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Pitz, Gordon (February 1969). </cite></ref>
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Psychologische Studien über [[Einstellung (Psychologie)|Einstellungen]] und Einstellungsänderung fanden heraus, dass Teilnehmer selbst dann unwillig sind, ihr Vertrauen in eine Annahme zu verringern, wenn sie neue Informationen erhalten, die gegen ihre ursprüngliche Annahme sprechen. Forscher postulierten dass dieser „Trägheitseffekt“ auf den psychologischen Bekenntnissen der Teilnehmer zu ihren anfänglichen Urteilen basiert.<ref>Gordon Pitz: [http://psycnet.apa.org/index.cfm?fa=buy.optionToBuy&id=1971-08094-001 ''An inertia effect (resistance to change) in the revision of opinion.''] (Abstract) In: ''Canadian Journal of Psychology.'' Februar 1969.</ref>
   
 
=== In romantischen Beziehungen ===
 
=== In romantischen Beziehungen ===
Einige psychologische Studien zeigten dass voreheliches Zusammenleben mit einem gesteigerten [[Scheidung]]<nowiki/>s-Risiko assoziiert ist, was als Kohabitations-Effekt definiert wurde. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Cohan, C.L.; Kleinbaum, S. (2002). </cite></ref> Forscher glauben, dass ein Grund für diesen Effekt darin besteht, dass das Zusammenleben die Trägheit der Beziehung erhöht - das heißt die Wahrscheinlichkeit ob ein Paar zusammenbleibt oder sich trennt. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Stanley, Scott; Rhoades, Galena Kline; Markman, Howard (2006). </cite></ref> Trägheit bei zusammenlebenden Paaren tritt deswegen auf, weil das Zusammenleben der Beziehung gewisse Bedingungen auferlegt (geteilte Miete etc.), was die Beendigung der Beziehung erschwert. Deshalb wird ein zusammenlebendes Paar die Beziehung weiter aufrechterhalten, auch wenn es nicht zusammenpasst. Weil das Zusammenleben ein nicht eindeutiges Bekenntnis im Vergleich zur [[Ehe]] repräsentiert, erhöht es wahrscheinlich nicht die Hingabe des jeweiligen Partners. Die Partner "rutschen" eher in die Ehe aufgrund des Zusammenlebens, anstatt eine klare Entscheidung sich zu einander zu bekennen zu treffen, was zu Problemen in der zukünftigen Ehe führt. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Stanley, Scott; Rhoades, Galena Kline; Markman, Howard (2006). </cite></ref>
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Einige psychologische Studien zeigten, dass voreheliches Zusammenleben mit einem gesteigerten [[Scheidung]]srisiko assoziiert ist, was als Kohabitationseffekt definiert wurde.<ref>{{Literatur|Autor=Catherine L. Cohan, Stacey Kleinbaum|Titel=Toward a Greater Understanding of the Cohabitation Effect: Premarital Cohabitation and Marital Communication|Sammelwerk=Journal of Marriage and Family|Band=64|Nummer=1|Verlag=|Jahr=2002|Monat=02|Tag=01|Seiten=180–192|ISSN=1741-3737|Online=[http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1741-3737.2002.00180.x/abstract wiley.com]|DOI=10.1111/j.1741-3737.2002.00180.x}}</ref> Forscher glauben, dass das Zusammenleben die Trägheit der Beziehung erhöht das heißt, die Wahrscheinlichkeit ob ein Paar zusammenbleibt oder sich trennt.<ref name="FamRel">{{Literatur|Autor=Scott M. Stanley, Galena Kline Rhoades, Howard J. Markman|Titel=Sliding Versus Deciding: Inertia and the Premarital Cohabitation Effect|Sammelwerk=Family Relations|Band=55|Nummer=4|Verlag=|Ort=|Jahr=2006|Seiten=499–509|Online=[http://www.jstor.org/stable/40005344 jstor.org]}}</ref> Trägheit bei zusammenlebenden Paaren tritt deswegen auf, weil das Zusammenleben der Beziehung gewisse Bedingungen auferlegt (geteilte Miete etc.), was die Beendigung der Beziehung erschwert. Deshalb wird ein zusammenlebendes Paar die Beziehung weiter aufrechterhalten, auch wenn es nicht zusammenpasst. Weil das Zusammenleben ein nicht eindeutiges Bekenntnis im Vergleich zur [[Ehe]] repräsentiert, erhöht es wahrscheinlich nicht die Hingabe des jeweiligen Partners. Die Partner „rutschen“ eher in die Ehe aufgrund des Zusammenlebens, anstatt eine klare Entscheidung sich zu einander zu bekennen zu treffen, was zu Problemen in der zukünftigen Ehe führt.<ref name="FamRel" />
   
Dennoch ist die Forschung, ob höhere Scheidungsraten auf den Kohabitations-Effekt zurückzuführen sind, uneinheitlich. Zum Beispiel haben Forscher gefunden, dass die Beziehung zwischen Zusammenleben und Scheidung auch von anderen Faktoren, wie der Zeitpunkt der Hochzeit (z.B. Ehen die nach 1996 geschlossen wurden, zeigten keinen Kohabitations-Effekt), Rasse/ethnische Zugehörigkeit und den Heirats-Plänen während des Zusammenziehens abhängt. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Wendy D. Manning,Jessica A. Cohen. </cite></ref> Andere Studien haben gezeigt dass das, was Kohabitations-Effekt genannt wird, sich auch gänzlich zu anderen Faktoren zuordnen lässt. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Family Matters (2003). </cite></ref>
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Dennoch ist die Forschung, ob höhere Scheidungsraten auf den Kohabitationseffekt zurückzuführen sind, uneinheitlich. Zum Beispiel haben Forscher gefunden, dass die Beziehung zwischen Zusammenleben und Scheidung auch von anderen Faktoren, wie der Zeitpunkt der Hochzeit (z.B. Ehen die nach 1996 geschlossen wurden, zeigten keinen Kohabitationseffekt), Rasse/ethnische Zugehörigkeit und den Heiratsplänen während des Zusammenziehens abhängt.<ref>Wendy D. Manning, Jessica A. Cohen: [http://paa2011.princeton.edu/papers/112067 ''Cohabitation and Marital Dissolution: The Significance of Marriage Cohort.''] auf princeton.edu.</ref> Andere Studien haben gezeigt dass das, was Kohabitations-Effekt genannt wird, sich auch gänzlich zu anderen Faktoren zuordnen lässt.<ref>Ruth Weston, Lixia Qu, David de Vaus: [https://www.melbourneinstitute.com/downloads/hilda/Bibliography/HILDA_Conference_Papers/2003_papers/RWeston.pdf ''Premarital cohabitation and subsequent marital stability.''] (PDF) In: ''Australian Institute of Family Studies.'' Nr. 65. University of Melbourne, Melbourne, Australia 13. März 2003.</ref>
   
 
=== Im Tierverhalten ===
 
=== Im Tierverhalten ===
Der Begriff soziale Trägheit wurde von A.M. Guhl 1968 benutzt, um Dominanz-Hierarchien in Tiergruppen zu beschreiben. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Archawaranon, Manee; Dove, Lorna, Wiley, R. Haven (1991). </cite></ref> Studien über Tierverhalten fanden, dass Gruppen von Tieren soziale Ordnungen oder soziale Hierarchien gründen können, die relativ fix und stabil sind. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Guhl, A.M. (April 1964). </cite></ref> Zum Beispiel gründen [[Hühner]] eine soziale Ordnung in der Gruppe, die auf einer [[Hackordnung]] basiert. Auch wenn manche der Hühner mit einem [[Androgene|Androgen]] behandelt wurden um ihre Aggressivität zu steigern, unterdrückte die entwickelte soziale Ordnung die Entfaltung des aggressiven Verhaltens, sodass die soziale Ordnung aufrechterhalten blieb. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Guhl, A.M. (April 1964). </cite></ref>
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Der Begriff soziale Trägheit wurde von A.M. Guhl 1968 benutzt, um Dominanz-Hierarchien in Tiergruppen zu beschreiben.<ref>{{Literatur|Autor=Manee Archawaranon, Lorna Dove, R. Haven Wiley|Titel=Social Inertia and Hormonal Control of Aggression and Dominance in White-Throated Sparrows|Sammelwerk=Behaviour|Band=118|Nummer=1|Verlag=|Jahr=1991|Seiten=42–65|ISSN=1568-539X|Online=[http://booksandjournals.brillonline.com/content/journals/10.1163/156853991x00193 brillonline.com]|DOI=10.1163/156853991X00193}}</ref> Studien über Tierverhalten fanden, dass Gruppen von Tieren soziale Ordnungen oder soziale Hierarchien gründen können, die relativ fix und stabil sind.<ref name="Guhl">{{Literatur|Autor=A. M. Guhl|Titel=Psychophysiological interrelations in the social behavior of chickens.|Sammelwerk=Psychological Bulletin|Band=61|Nummer=4|Verlag=|Ort=|Jahr=1964|Monat=04|Seiten=277–285|DOI=10.1037/h0044799}}</ref> Zum Beispiel gründen [[Haushuhn|Hühner]] eine soziale Ordnung in der Gruppe, die auf einer [[Rangordnung (Biologie)|Hackordnung]] basiert. Auch wenn manche der Hühner mit einem [[Androgene|Androgen]] behandelt wurden, um ihre Aggressivität zu steigern, unterdrückte die entwickelte soziale Ordnung die Entfaltung des aggressiven Verhaltens, sodass die soziale Ordnung aufrechterhalten blieb.<ref name="Guhl" />
   
Der selbe Effekt wurde sowohl bei anderen[[ Vogelarten]] als auch bei Invertebraten wie soziale Wespen und dem [[Totengräber (Käfer)|Totengräber-Käfer]] N.orbicollis gefunden. Forscher haben die Theorie, dass dieser Mangel an Veränderung in sozialen Hierarchien, selbst unter dem Einfluss von [[Aggression]]s-Hormonen, auf Effekten von Vertrautheit basiert - Tiere lernen ihren Platz in der sozialen Hierarchie einer Gruppe innerhalb der ersten wenigen Begegnungen mit anderen Gruppenmitgliedern. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Kou, Ron; Chou, Szu-Ying; Chen, Shu-Chin; Huang, Zachary (September 2009). </cite></ref> Dies verursacht, dass niedriger gestellte Tiere, die mit Aggressions-Hormonen behandelt wurden, sich aggressiv gegenüber Tieren aus anderen Gruppen verhalten, jedoch nicht gegenüber dominanten Mitgliedern aus der eigenen Gruppe. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Wiley, R. Haven; Steadman, Laura; Chadwick, Laura; Wollerman, Lori (February 1999). </cite></ref>
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Derselbe Effekt wurde sowohl bei anderen [[Systematik der Vögel|Vogelarten]] als auch bei Invertebraten wie soziale Wespen und dem [[Totengräber (Käfer)|Totengräber-Käfer]] N.orbicollis gefunden. Forscher haben die Theorie, dass dieser Mangel an Veränderung in sozialen Hierarchien, selbst unter dem Einfluss von [[Aggression]]shormonen, auf Effekten von Vertrautheit basiert Tiere lernen ihren Platz in der sozialen Hierarchie einer Gruppe innerhalb der ersten wenigen Begegnungen mit anderen Gruppenmitgliedern.<ref>{{Literatur|Autor=Rong Kou, Szu-Ying Chou, Shu-Chun Chen, Zachary Y. Huang|Titel=Juvenile hormone and the ontogeny of cockroach aggression|Sammelwerk=Hormones and Behavior|Band=56|Nummer=3|Verlag=|Ort=|Jahr=2009|Monat=09|Tag=01|Seiten=332–338|Online=[http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0018506X0900141X sciencedirect.com]|DOI=10.1016/j.yhbeh.2009.06.011}}</ref> Dies verursacht, dass niedriger gestellte Tiere, die mit Aggressionshormonen behandelt wurden, sich aggressiv gegenüber Tieren aus anderen Gruppen verhalten, jedoch nicht gegenüber dominanten Mitgliedern aus der eigenen Gruppe.<ref>{{Literatur|Autor=R. Haven Wiley, Laura Steadman, Laura Chadwick, Lori Wollerman|Titel=Social inertia in white-throated sparrows results from recognition of opponents|Sammelwerk=Animal Behaviour|Band=57|Nummer=2|Verlag=|Ort=|Jahr=1999|Monat=02|Tag=01|Seiten=453–463|Online=[http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0003347298909915 sciencedirect.com]|PMID=10049486|DOI=10.1006/anbe.1998.0991}}</ref>
   
 
== Verwandte Konzepte ==
 
== Verwandte Konzepte ==
   
 
Der Psychologe Michael Zarate hat den Begriff „kulturelle Trägheit“ kreiert, um auf Reaktionen zu sozialem Wandel, wie zum Beispiel die, die durch [[Einwanderung|Immigration]] verursacht werden, einzugehen. Kulturelle Trägheit ist definiert als Wunsch, kulturellen Wandel zu vermeiden und auch als Wunsch den Wandel zu stoppen, wenn er schon eingetreten ist. Innerhalb des Rahmens der kulturellen Trägheit ist die dominante Gruppe stabil und widersteht kulturellem Wandel, während untergeordnete Gruppen kulturelle Veränderungen wünschen, die ihre kulturellen Traditionen einbeziehen, sodass sie sich nicht in die dominante Kultur [[Integration (Soziologie)|integrieren]] müssen. Im Zusammenhang mit den Vereinigten Staaten und Immigration schlägt das System vor, dass Mitglieder der weißen Mehrheit dem kulturellen Wandel, der von Immigration stammt, standhalten, während Immigranten-Gruppen versuchen, Veränderung in der amerikanischen Kultur in Gang zu setzen.<ref name="effects">{{Literatur|Autor=Michael A. Zárate, Moira Shaw, Jorge A. Marquez, David Biagas Jr.|Titel=Cultural inertia: The effects of cultural change on intergroup relations and the self-concept|Sammelwerk=Journal of Experimental Social Psychology|Band=48|Nummer=3|Verlag=|Ort=|Jahr=2012|Monat=05|Tag=01|Seiten=634–645|Online=[http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0022103111003040 sciencedirect.com]|DOI=10.1016/j.jesp.2011.12.014}}</ref>
=== Kulturelle Trägheit ===
 
Der Psychologe Michael Zarate hat den Begriff "kulturelle Trägheit" kreiert, um auf Reaktionen zu sozialem Wandel, wie zum Beispiel die, die durch [[Einwanderung|Immigration]] verursacht werden, einzugehen. Kulturelle Trägheit ist definiert als Wunsch, kulturellen Wandel zu vermeiden und auch als Wunsch den Wandel zu stoppen, wenn er schon eingetreten ist. Innerhalb des Rahmens der kulturellen Trägheit ist die dominante Gruppe stabil und widersteht kulturellem Wandel, während untergeordnete Gruppen kulturelle Veränderungen wünschen, die ihre kulturellen Traditionen einbeziehen, sodass sie sich nicht in die dominante Kultur [[integrieren]] müssen. Im Zusammenhang mit den Vereinigten Staaten und Immigration schlägt das System vor, dass Mitglieder der weißen Mehrheit dem kulturellen Wandel, der von Immigration stammt, standhalten, während Immigranten-Gruppen versuchen, Veränderung in der amerikanischen Kultur in Gang zu setzen. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Zárate, M. A.; Shaw, M.; Marquez, J. A.; Biagas, D.; Jr (2012). </cite></ref>
 
   
Kulturelle Trägheit steht in Beziehung zu sozialpsychologischen Theorien wie dem instrumentalem Modell des Gruppen-Konflikts, [[Akkulturation|kultureller Anpassung]] und der System Justification Theory. Sie trägt zu [[Vorurteil|Vorurteilen]] über Gruppen, aufgrund der Angst von Gruppen vor kulturellem Wandel, bei. <ref><cite class="citation journal" contenteditable="false">Zárate, M. A.; Shaw, M.; Marquez, J. A.; Biagas, D.; Jr (2012). </cite></ref>
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Kulturelle Trägheit steht in Beziehung zu sozialpsychologischen Theorien wie dem instrumentalen Modell des Gruppenkonflikts, [[Akkulturation|kultureller Anpassung]] und der System Justification Theory. Sie trägt zu [[Vorurteil]]en über Gruppen, aufgrund der Angst von Gruppen vor kulturellem Wandel, bei.<ref name="effects" />
   
 
== Siehe auch ==
 
== Siehe auch ==
 
* [[Wikipedia:de:Status Quo Bias]]
 
 
* [[Wikipedia:de:Soziale Norm]]
* [[Status Quo Bias]]
 
* [[Soziale Norm]]
 
   
 
== Einzelnachweise ==
 
== Einzelnachweise ==
 
<references />
 
<references />
  +
[[Kategorie:Soziologie]]
  +
[[Kategorie:Sozialpsychologie]]

Aktuelle Version vom 11. Februar 2016, 18:30 Uhr

In der Psychologie und Soziologie bezeichnet soziale Trägheit den Widerstand gegen Veränderung in Gesellschaften oder sozialen Gruppen sowie die Ausdauer von stabilen Beziehungen. Soziale Trägheit bezeichnet das Gegenteil von sozialem Wandel.

Übersicht

Die Idee der sozialen Trägheit lässt sich auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurückführen. Nach Bourdieu besetzt jede Person eine Position in einem sozialen Raum, der aus ihrer sozialen Schicht sowie aus den sozialen Beziehungen und sozialen Netzwerken besteht. Durch das Engagement des Individuums im sozialen Raum entwickelt es eine Reihe von Verhaltensweisen, Lebensarten und Gewohnheiten (die Bourdieu als Habitus bezeichnet), die oft dazu dienen den Status quo aufrechtzuerhalten. Dadurch sind Menschen ermutigt „die soziale Welt zu akzeptieren wie sie ist, sie lieber für selbstverständlich zu halten, als dagegen zu rebellieren und sie mit ihren gegensätzlichen, sogar antagonistischen Möglichkeiten zu vergleichen.“[1] Dies kann die Kontinuität der sozialen Ordnung über die Zeit erklären.[2]

Soziologen haben untersucht, wie das wirtschaftliche und kulturelle Erbe über Generationen weitergegeben wird, was zu starker sozialer Trägheit, selbst während Zeiten sozialen Fortschritts, führen kann. Im Besonderen fand Bourdieu in seinen Algerien-Studien, dass selbst in Zeiten von schnellem, wirtschaftlichem Wandel kulturelle und symbolische Faktoren die Flexibilität der Gesellschaft, sich rasch an den Wandel anzupassen, einschränkten.[2]

Deshalb wurde soziale Trägheit benutzt, um zu erklären, wie dominante soziale Schichten ihren Status und ihr Privileg über die Zeit aufrechterhalten. Momentan ist dies ein heiß diskutiertes Thema in den Vereinigten Staaten. Während Präsident Barack Obama Amerikas Bekenntnis zur Chancengleichheit in seiner zweiten Antrittsrede beteuerte, glaubt Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz es sei ein Mythos, dass die moderne Gesellschaft Chancengleichheit und hohe soziale Mobilität durch Mechanismen wie Schulbildung bietet.[3]

Beispiele

In der Ehrenkultur

Ein Beispiel sozialer Trägheit in der Kultur der Vereinigten Staaten ist die „Ehrenkultur“ (“culture of honor”), die in Teilen des Südens und des Westens existiert. In der Ehrenkultur wird Gewalt als akzeptabler Weg gesehen, um auf Kränkungen oder Gefahren des Selbst, der Familie, des Besitzes oder der Reputation einer Person zu antworten. Manche Psychologen und Historiker glauben, dass die Ehrenkultur als eine Art Zwangsordnung an der Grenze entstanden sei, als der Süden und der Westen erstmals besiedelt wurden und unzureichende Strafverfolgung und eine niedrige soziale Ordnung vorherrschten.[4] Dieser Hypothese zufolge sollte Hüten (eine einsame Aktivität) stärker mit der Ehrenkultur verbunden sein als mit der Landwirtschaft (eine zusammenwirkende Aktivität). Dennoch haben manche Wissenschaftler keine Stützung dafür gefunden. Als Forscher die Beziehung zwischen landwirtschaftlichen Praktiken im ländlichen Süden und der weißen männlichen Mordrate in diesen Regionen untersuchten, fanden sie keine höheren Mordraten in hügeligen und trockenen Landkreisen, die aufgrund dessen besser geeignet waren für das Hüten im Vergleich zur Landwirtschaft. Sie schlossen daraus, dass die Mordraten nicht die Hypothese Hüten vs. Landwirtschaft der Ehrenkultur stützten.[5] Deswegen wurden Religion und Armut als alternative Erklärungen für den Ursprung der Ehrenkultur vorgeschlagen.[6][4]

In der schöpferischen Arbeit

In einem Artikel aus 2013 des Journal of Sociology wendete der Soziologe Scott Brook die Theorie der sozialen Trägheit auf das Feld der schöpferischen Arbeit an. Im Speziellen war Brook damit befasst, warum so viele Studenten dabeibleiben, Abschlüsse im kreativen Bereich (Kunst, kreatives Schreiben) anzustreben, selbst wenn die Mehrheit der Arbeitskräfte der Meinung ist, dass viele Studenten nach dem Abschluss keine Anstellung in diesem Bereich fänden. Selbst wenn sie in der Lage seien, eine Anstellung zu finden, verdienten sie weniger als Kollegen mit nicht-kreativen Studienabschlüssen.[7] Scott nutzte Bourdieus Auffassung der sozialen Trägheit um anzuregen, dass Studenten, die es zu der nicht-kommerziellen Natur des kreativen Bereich zog, aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status und „Eltern mit gescheiterten Karrieren kamen. Die Studenten traten in die Fußstapfen der Eltern indem sie Studiengänge wählten die wenig wahrscheinlich zu Karrieren mit hohem Einkommen führen, somit führt dies zu sozialer Trägheit der Einkünfte über Generationen“.

In Kollaborationen

Soziale Trägheit wurde benutzt, um die Zusammenarbeit und Interaktionen zwischen Menschen zu untersuchen. Im Speziellen wurde soziale Trägheit als Maß für die fortbestehende Zusammenarbeit mit vorherigen Partnern und Mitgliedern eines Teams definiert. Eine Analyse von großformatigen, komplexen Netzwerken wie der Internet Movie Database zeigte, dass zwei Arten von „extremen“ Kollaborations-Verhaltensmustern öfter auftraten als durchschnittliches Verhalten – manche Menschen arbeiten wieder und wieder mit den selben Partnern zusammen, während andere ihre Partner häufig wechseln.[8]

In Einstellungen und Einstellungsänderungen

Psychologische Studien über Einstellungen und Einstellungsänderung fanden heraus, dass Teilnehmer selbst dann unwillig sind, ihr Vertrauen in eine Annahme zu verringern, wenn sie neue Informationen erhalten, die gegen ihre ursprüngliche Annahme sprechen. Forscher postulierten dass dieser „Trägheitseffekt“ auf den psychologischen Bekenntnissen der Teilnehmer zu ihren anfänglichen Urteilen basiert.[9]

In romantischen Beziehungen

Einige psychologische Studien zeigten, dass voreheliches Zusammenleben mit einem gesteigerten Scheidungsrisiko assoziiert ist, was als Kohabitationseffekt definiert wurde.[10] Forscher glauben, dass das Zusammenleben die Trägheit der Beziehung erhöht – das heißt, die Wahrscheinlichkeit ob ein Paar zusammenbleibt oder sich trennt.[11] Trägheit bei zusammenlebenden Paaren tritt deswegen auf, weil das Zusammenleben der Beziehung gewisse Bedingungen auferlegt (geteilte Miete etc.), was die Beendigung der Beziehung erschwert. Deshalb wird ein zusammenlebendes Paar die Beziehung weiter aufrechterhalten, auch wenn es nicht zusammenpasst. Weil das Zusammenleben ein nicht eindeutiges Bekenntnis im Vergleich zur Ehe repräsentiert, erhöht es wahrscheinlich nicht die Hingabe des jeweiligen Partners. Die Partner „rutschen“ eher in die Ehe aufgrund des Zusammenlebens, anstatt eine klare Entscheidung sich zu einander zu bekennen zu treffen, was zu Problemen in der zukünftigen Ehe führt.[11]

Dennoch ist die Forschung, ob höhere Scheidungsraten auf den Kohabitationseffekt zurückzuführen sind, uneinheitlich. Zum Beispiel haben Forscher gefunden, dass die Beziehung zwischen Zusammenleben und Scheidung auch von anderen Faktoren, wie der Zeitpunkt der Hochzeit (z.B. Ehen die nach 1996 geschlossen wurden, zeigten keinen Kohabitationseffekt), Rasse/ethnische Zugehörigkeit und den Heiratsplänen während des Zusammenziehens abhängt.[12] Andere Studien haben gezeigt dass das, was Kohabitations-Effekt genannt wird, sich auch gänzlich zu anderen Faktoren zuordnen lässt.[13]

Im Tierverhalten

Der Begriff soziale Trägheit wurde von A.M. Guhl 1968 benutzt, um Dominanz-Hierarchien in Tiergruppen zu beschreiben.[14] Studien über Tierverhalten fanden, dass Gruppen von Tieren soziale Ordnungen oder soziale Hierarchien gründen können, die relativ fix und stabil sind.[15] Zum Beispiel gründen Hühner eine soziale Ordnung in der Gruppe, die auf einer Hackordnung basiert. Auch wenn manche der Hühner mit einem Androgen behandelt wurden, um ihre Aggressivität zu steigern, unterdrückte die entwickelte soziale Ordnung die Entfaltung des aggressiven Verhaltens, sodass die soziale Ordnung aufrechterhalten blieb.[15]

Derselbe Effekt wurde sowohl bei anderen Vogelarten als auch bei Invertebraten wie soziale Wespen und dem Totengräber-Käfer N.orbicollis gefunden. Forscher haben die Theorie, dass dieser Mangel an Veränderung in sozialen Hierarchien, selbst unter dem Einfluss von Aggressionshormonen, auf Effekten von Vertrautheit basiert – Tiere lernen ihren Platz in der sozialen Hierarchie einer Gruppe innerhalb der ersten wenigen Begegnungen mit anderen Gruppenmitgliedern.[16] Dies verursacht, dass niedriger gestellte Tiere, die mit Aggressionshormonen behandelt wurden, sich aggressiv gegenüber Tieren aus anderen Gruppen verhalten, jedoch nicht gegenüber dominanten Mitgliedern aus der eigenen Gruppe.[17]

Verwandte Konzepte

Der Psychologe Michael Zarate hat den Begriff „kulturelle Trägheit“ kreiert, um auf Reaktionen zu sozialem Wandel, wie zum Beispiel die, die durch Immigration verursacht werden, einzugehen. Kulturelle Trägheit ist definiert als Wunsch, kulturellen Wandel zu vermeiden und auch als Wunsch den Wandel zu stoppen, wenn er schon eingetreten ist. Innerhalb des Rahmens der kulturellen Trägheit ist die dominante Gruppe stabil und widersteht kulturellem Wandel, während untergeordnete Gruppen kulturelle Veränderungen wünschen, die ihre kulturellen Traditionen einbeziehen, sodass sie sich nicht in die dominante Kultur integrieren müssen. Im Zusammenhang mit den Vereinigten Staaten und Immigration schlägt das System vor, dass Mitglieder der weißen Mehrheit dem kulturellen Wandel, der von Immigration stammt, standhalten, während Immigranten-Gruppen versuchen, Veränderung in der amerikanischen Kultur in Gang zu setzen.[18]

Kulturelle Trägheit steht in Beziehung zu sozialpsychologischen Theorien wie dem instrumentalen Modell des Gruppenkonflikts, kultureller Anpassung und der System Justification Theory. Sie trägt zu Vorurteilen über Gruppen, aufgrund der Angst von Gruppen vor kulturellem Wandel, bei.[18]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Pierre Bourdieu: The social space and the genesis of groups. In: Theory and Society. Band 14, Nr. 6, 1. November 1985, ISSN 1573-7853, S. 723–744, doi:10.1007/BF00174048.
  2. 2,0 2,1 David L. Swartz, Vera L. Zolberg: After Bourdieu: Influence, Critique, Elaboration. Springer Science & Business Media, 2006, ISBN 1-4020-2589-0, S. 92 (books.google.com).
  3. Joseph Stiglitz: Equal Opportunity, Our National Myth. In: The New York Times, 16. Februar 2013. Abgerufen am 9. Dezember 2013. 
  4. 4,0 4,1 Dov Cohen: Culture, social organization, and patterns of violence. In: Journal of Personality and Social Psychology. Band 75, Nr. 2, 1998, S. 408–419, doi:10.1037/0022-3514.75.2.408.
  5. Rebekah Chu, Craig Rivera, Colin Loftin: Herding and Homicide: An Examination of the Nisbett-Reaves Hypothesis. In: Social Forces. Band 78, Nr. 3, 1. März 2000, ISSN 1534-7605, S. 971–987, doi:10.1093/sf/78.3.971 (oxfordjournals.org).
  6. Nigel Barber: Is Southern violence due to a culture of honor?auf psychologytoday.com.
  7. Scott Brook: Social inertia and the field of creative labour. (PDF) sagepub.com, 2013, abgerufen am 9. Februar 2016 (Zugriff nur über Login).
  8. J. J. Ramasco: Social inertia and diversity in collaboration networks. In: The European Physical Journal Special Topics. Band 143, Nr. 1, 1. April 2007, ISSN 1951-6355, S. 47–50, doi:10.1140/epjst/e2007-00069-9.
  9. Gordon Pitz: An inertia effect (resistance to change) in the revision of opinion. (Abstract) In: Canadian Journal of Psychology. Februar 1969.
  10. Catherine L. Cohan, Stacey Kleinbaum: Toward a Greater Understanding of the Cohabitation Effect: Premarital Cohabitation and Marital Communication. In: Journal of Marriage and Family. Band 64, Nr. 1, 1. Februar 2002, ISSN 1741-3737, S. 180–192, doi:10.1111/j.1741-3737.2002.00180.x (wiley.com).
  11. 11,0 11,1 Scott M. Stanley, Galena Kline Rhoades, Howard J. Markman: Sliding Versus Deciding: Inertia and the Premarital Cohabitation Effect. In: Family Relations. Band 55, Nr. 4, 2006, S. 499–509 (jstor.org).
  12. Wendy D. Manning, Jessica A. Cohen: Cohabitation and Marital Dissolution: The Significance of Marriage Cohort. auf princeton.edu.
  13. Ruth Weston, Lixia Qu, David de Vaus: Premarital cohabitation and subsequent marital stability. (PDF) In: Australian Institute of Family Studies. Nr. 65. University of Melbourne, Melbourne, Australia 13. März 2003.
  14. Manee Archawaranon, Lorna Dove, R. Haven Wiley: Social Inertia and Hormonal Control of Aggression and Dominance in White-Throated Sparrows. In: Behaviour. Band 118, Nr. 1, 1991, ISSN 1568-539X, S. 42–65, doi:10.1163/156853991X00193 (brillonline.com).
  15. 15,0 15,1 A. M. Guhl: Psychophysiological interrelations in the social behavior of chickens. In: Psychological Bulletin. Band 61, Nr. 4, April 1964, S. 277–285, doi:10.1037/h0044799.
  16. Rong Kou, Szu-Ying Chou, Shu-Chun Chen, Zachary Y. Huang: Juvenile hormone and the ontogeny of cockroach aggression. In: Hormones and Behavior. Band 56, Nr. 3, 1. September 2009, S. 332–338, doi:10.1016/j.yhbeh.2009.06.011 (sciencedirect.com).
  17. R. Haven Wiley, Laura Steadman, Laura Chadwick, Lori Wollerman: Social inertia in white-throated sparrows results from recognition of opponents. In: Animal Behaviour. Band 57, Nr. 2, 1. Februar 1999, S. 453–463, doi:10.1006/anbe.1998.0991, PMID 10049486 (sciencedirect.com).
  18. 18,0 18,1 Michael A. Zárate, Moira Shaw, Jorge A. Marquez, David Biagas Jr.: Cultural inertia: The effects of cultural change on intergroup relations and the self-concept. In: Journal of Experimental Social Psychology. Band 48, Nr. 3, 1. Mai 2012, S. 634–645, doi:10.1016/j.jesp.2011.12.014 (sciencedirect.com).