Odoaker (latinisiert: Flavius Odoacer; * um 433 in Pannonien; † 493 in Ravenna) war ein germanischer Heerführer, der im Jahr 476 den letzten weströmischen Kaiser Romulus Augustulus absetzte und sich selbst zum Herrscher über Italien ernannte. Er gilt als der erste „König von Italien“ und seine Herrschaft markiert das Ende des Weströmischen Reiches.
Herkunft und Aufstieg
Odoaker wurde um das Jahr 433 vermutlich in Pannonien geboren. Er entstammte einer germanischen Familie, wobei seine genaue ethnische Zugehörigkeit umstritten ist. Die meisten Quellen sehen in ihm einen Angehörigen des Heruler-Volkes, während andere ihn den Skiren zuschreiben. Pannonien, das damalige römische Grenzgebiet am mittleren Donauraum, war ein Schmelztiegel verschiedener germanischer Stämme und Truppen, die als foederati, also als verbündete Hilfstruppen Roms, dienten. Sein Vater Edico war ein hochrangiger Offizier in römischen Diensten, was Odoaker den Eintritt in die römische Armee erleichterte.
Odoaker begann seine militärische Laufbahn als einfacher Soldat und stieg aufgrund seiner Fähigkeiten schnell in den Rängen auf. In den 470er Jahren war er Anführer der germanischen Söldner in Italien, die in den Diensten des weströmischen Kaisers standen. Zu dieser Zeit war das Weströmische Reich bereits stark geschwächt, und die römischen Kaiser hatten nur noch geringe tatsächliche Macht. Der Einfluss der germanischen Heeresführer auf die Politik in Italien nahm stetig zu.
Absetzung des Romulus Augustulus und Herrschaft
Im Jahr 475 setzte sich Romulus Augustulus, der Sohn des Heermeisters Orestes, als weströmischer Kaiser auf den Thron. Romulus war jedoch noch ein Kind, und die eigentliche Macht lag in den Händen seines Vaters. Die germanischen Truppen, die unter Odoakers Kommando standen, forderten von Orestes die Zuteilung von Land in Italien. Als dieser die Forderungen ablehnte, meuterten die Truppen unter Odoakers Führung. Im Jahr 476 besiegte Odoaker Orestes und setzte dessen Sohn Romulus Augustulus ab, womit die über tausendjährige Geschichte des Weströmischen Reiches zu einem Ende kam.
Anstatt einen neuen Kaiser zu ernennen, schickte Odoaker die kaiserlichen Insignien nach Konstantinopel an den oströmischen Kaiser Zenon und erklärte, dass ein Kaiser für das gesamte Römische Reich ausreiche. Zenon erkannte Odoaker als patricius und faktischen Herrscher Italiens an, womit Odoakers Herrschaft formalisiert wurde. Odoaker nahm jedoch nie den Titel eines Kaisers an, sondern regierte in Italien als König („rex“), was ihn zum ersten „König von Italien“ machte.
Während seiner Herrschaft respektierte Odoaker weitgehend die römischen Traditionen und verwaltete Italien im Sinne der römischen Ordnung. Er ließ das römische Verwaltungssystem intakt und gewährte der römischen Oberschicht weitgehend ihre Privilegien. Gleichzeitig musste er den Forderungen seiner germanischen Krieger nach Land und Versorgung nachkommen. In den folgenden Jahren konsolidierte Odoaker seine Macht und dehnte sein Herrschaftsgebiet auf Dalmatien aus.
Konflikt mit Theoderich und Tod
Odoakers Herrschaft blieb jedoch nicht unangefochten. Zenon, der oströmische Kaiser, suchte nach einem Weg, Odoakers Macht in Italien zu brechen. 488 sandte er den Ostgotenkönig Theoderich nach Italien mit dem Auftrag, Odoaker zu besiegen und die Kontrolle über Italien zu übernehmen. Theoderich, der als foederatus ebenfalls formell im Dienste des Oströmischen Reiches stand, fiel mit seinem Heer in Italien ein.
In den folgenden Jahren kam es zu mehreren Schlachten zwischen den Truppen Odoakers und Theoderichs. Odoaker musste sich schließlich nach Ravenna zurückziehen, das von Theoderich belagert wurde. Nach langen Verhandlungen wurde ein Friedensschluss vereinbart, der eine gemeinsame Herrschaft über Italien vorsah. Doch kurz nach der feierlichen Besiegelung des Friedens ließ Theoderich Odoaker während eines Banketts im Jahr 493 ermorden und übernahm die alleinige Herrschaft über Italien.
Bedeutung und Nachwirkung
Odoakers Absetzung des Romulus Augustulus und die formale Auflösung des weströmischen Kaisertums markierten einen symbolischen Einschnitt in der Geschichte des Römischen Reiches. Obwohl das Oströmische Reich mit seiner Hauptstadt Konstantinopel noch fast ein Jahrtausend weiter bestand, wird das Jahr 476 oft als das Ende der Antike und der Beginn des Mittelalters in der westlichen Geschichtsschreibung betrachtet.
Odoaker selbst blieb in der römischen Überlieferung eine ambivalente Figur. Während er von vielen spätantiken Schriftstellern als Usurpator betrachtet wurde, der das Römische Reich endgültig zu Fall brachte, wird er in modernen Darstellungen oft als pragmatischer Herrscher gesehen, der die römische Ordnung in Italien bewahrte und stabilisierte, solange es ihm möglich war. Seine Herrschaft und sein Umgang mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Italien, sowohl den römischen als auch den germanischen, prägten das entstehende frühmittelalterliche Europa.
Literaturverzeichnis
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