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Das Internationales Menschenrechts-Tribunal (IMRT) fand im Juni 1995 in Wien statt.[1][2][3] Eine Reihe von Menschenrechtsorganisationen Österreichs erhob Anklage gegen die Republik Österreich wegen der Verfolgung und Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in Österreich von 1945 bis 1995. Anlass war das 50-Jahr-Jubiläum der Zweiten Republik. Den Vorsitz führten Freda Meissner-Blau, Gründerin der Grünen, und Gerhard Oberschlick, Herausgeber des FORVM. Die Anklage wurde vom Menschenrechtsaktivisten Christian Michelides geleitet. Die Republik Österreich weigerte sich zu verteidigen.

Beschluss zur Durchführung[]

Die Durchführung eines Tribunals wurde von Michelides auf dem Abschlussplenum des 4. Österreichischen Lesben- und Schwulenforums „Alpenglühen“ am 1. November 1994 in der Rosa Lila Villa in Wien vorgeschlagen. Während der Debatte vor der Abstimmung regte sich Kritik am Begriff Tribunal, doch Gudrun Hauer überzeugte das Plenum, dass die Referenz zum Russell-Tribunal angebracht sei. Hermes Phettberg äußerte Bedenken, dass die LGBT Community in Österreich zu schwach sei, ein derart ambitioniertes Unterfangen durchzuführen. Trotzdem wurde der Vorschlag mit solider Mehrheit von Plenum angenommen. [4]

Das Internationale Komitee[]

Da die Organisatoren Repressionen seitens der Republik Österreich fürchteten, wurde eine Reihe international anerkannter Persönlichkeiten gebeten, dem Internationalen Komitee des IMRT beizutreten und so das Projekt abzusichern. Zur Zeit des Tribunals, im Jahr 1995, bedrohten nach wie vor zwei Strafrechts-Paragraphen jedes öffentliche Auftreten der LGBT Aktivisten in Österreich: § 220 des Strafgesetzbuches verfolgte "Werbung für Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechts und für Unzucht mit Tieren" mit bis zu sechs Monaten Gefängnis, § 221 stellte die alle "Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht" unter Strafe, ebenfalls mit bis zu sechs Monaten Haft. Von Gesetzes wegen hätten daher alle Teilnehmer des Tribunals vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen verurteilt werden können. Obwohl sich Königin Margarethe II. von Dänemark nicht dafür entscheiden konnte, den Vorsitz des Komitees zu übernehmen, gab es weltweit breite Unterstützung. Zu den Mitgliedern des Internationalen Komitees zählten Jacques Gaillot, Bischof von Partenia, der Widerstandskämpfer Georg Scheuer, die Europa-Abgeordneten Mel Read (Großbritannien) und Claudia Roth (Deutschland), der kanadische Politiker Svend Robinson, die österreichischen Parlamentarier Terezija Stoisits und Doris Kammerlander (beide von den Grünen), Irmtraut Karlsson, Elisabeth Pittermann und Annemarie Reitsamer (alle von der Sozialdemokratischen Partei Österreichs), weiters die Schriftsteller Erica Fischer, Kuno Knöbl, Christine Nöstlinger, Gerhard Roth und Ingrid Strobl, der Journalist Reinhard Tramontana, der Umweltexperte Robert Chambers (Frankfurt), die Historikerinnen Herta Nagl-Docekal und Brigitte Bailer-Galanda, der Soziologe Bernd Marin und der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak (alle vier aus Wien), der Politikwissenschaftler Anton Pelinka (aus Innsbruck), sowie weitere Professoren aus Moskau, St. Petersburg, Vancouver, Utrecht und Preston. Darüber hinaus beteiligte sich eine Reihe von Menschrechtsexperten, Publizisten und LGBT Aktivisten aus Belgien, Dänemark, Frankreich, Niederlande, Norwegen und Peru.

Senat[]

Unter dem Vorsitz von Meissner-Blau und Oberschlick setzte sich der Senat des IMRT aus prominenten Persönlichkeiten der österreichischen Zivilgesellschaft zusammen. Unter anderen beteiligten sich der Theologe Kurt Lüthi, die Philosophen Rudolf Burger und Oliver Marchart, die Schriftsteller Josef Haslinger, Doron Rabinovici und Katharina Riese, die Politiker Friedrun Huemer (Die Grünen) und Volker Kier (Liberales Forum), die Schauspielerin Mercedes Echerer, die Psychotherapeuten Rotraud Perner, Alfred Pritz and Jutta Zinnecker, der Richter Norbert Gerstberger, die Rechtsanwälte Nadja Lorenz and Alfred Noll, der Kulturwissenschaftler Dieter Schrage, die Journalistinnen Trautl Brandstaller, Irene Brickner, Sibylle Hamann und Christa Zöchling, der Herausgeber und Schriftsteller Heimrad Bäcker, drei Gewerkschafter, zwei Ärzte, sowie eine Reihe von Menschenrechtsaktivisten. Die Zusammensetzung der Jury wechselte bei jedem Anklagepunkt - entsprechend dem spezifischen Know-how der Senatsmitglieder. Beispielsweise bestand die Jury für den Anklagepunkt "VII. Diskriminierung in der Öffentlichkeit" - neben den beiden Vorsitzenden - aus den vier oben genannten Journalistinnen, den Autoren Bäcker und Haslinger, dem Theologen Lüthi, der Schauspielerin Echerer, der Psychotherapeutin Perner und einem Soziologen.

Anklage[]

Chefankläger Christian Michelides leitete - in seiner damaligen Funktion als Vorsitzender des ÖLSF - ein Team mit prominenten Vertretern der LGBT Bewegung in Österreich, darunter die HOSI Wien Aktivisten Gudrun Hauer, Kurt Krickler und Waltraud Riegler, sowie die Transgender Repräsentantin Elisabeth Piesch.

Die Ankläger trugen Beweise in sieben Bereichen vor:

  • Strafrecht und Verfassung
  • Personenstand, Familie, Ehe, Lebensgemeinschaft
  • Wiedergutmachung für NS-Verfolgung
  • AIDS und die sozialen Folgen
  • Gefängnis, Psychiatrie, Bundesheer, Polizei, Asyl
  • Diskriminierung in der Arbeitswelt
  • Diskriminierung in der Öffentlichkeit

Zeugen wurden aufgerufen, um die Vorwürfe zu dokumentieren. Die Zeugen berichteten über polizeiliche Verfolgung, Verhaftung, psychiatrische Behandlung und Elektroschocks, Verlust des Arbeitsplatzes und öffentliche Demütigung. In jedem der sieben Bereiche wurde die Republik Österreich angeklagt, die Menschenrechte verletzt zu haben und damit die - von ihr unterzeichnete - Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, beschlossen von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 im Palais de Chaillot in Paris, gebrochen zu haben.

Verteidigung[]

In sechs der sieben Anklagepunkte blieb die Bank der Verteidigung unbesetzt. Die Republik Österreich weigerte sich, sich zu verteidigen. Die meisten politischen Repräsentanten hatten entweder die Einladung ignoriert oder an eine Abteilung ihres Ministeriums weitergeleitet, welches nicht antwortete. Lediglich ein ausführlicher Brief von Roland Miklau, einem Sektionschef im Justizministerium, erklärte, warum er es vorzog, nicht am Tribunal teilzunehmen.

Am ersten Tag des Tribunals nahm jedoch der Parlamentarier Johannes Jarolim von den regierenden Sozialdemokraten Platz auf der Anklagebank - als amicus curiae. Er verteidigte die Republik Österreich nicht, sondern erklärte seine Zustimmung zu allen von der Anklage geforderten Änderungen im Strafrecht. Er verwies auf die Weigerung des Koalitionspartners, der Österreichischen Volkspartei, die damals jede Änderung in diesem Bereich blockierte.

Sieben Urteile[]

Die Republik Österreich wurde in allen sieben Anklagepunkte verurteilt.[5] Jedoch stimmte der Senat nicht in allen Einzelheiten den Forderungen der Anklage zu. Beispielsweise beantragte der Chefankläger - in Kapitel I. Strafrecht und Verfassung - die ersatzlose Streichung des Pornographiegesetzes. Der Senat stimmte dieser Forderung nicht zu.

Folgen des Tribunals[]

Obwohl von der Presse weitgehend ignoriert, wurden in den Folgejahre die Urteile des Tribunals und deren Forderungen fast vollständig im Rechtswesen der Republik umgesetzt:

  • 1996: Streichung der §§ 220 und 221 StGB
  • 1998: Änderung der StPO, wonach gleichgeschlechtliche Partner ein Aussageverweigerungsrecht eingeräumt bekommen
  • 2002: Das Mindestalter wird für alle sexuellen Orientierungen gleichgestellt
  • 2003: Löschung aller Aufzeichnungen über Verurteilungen nach dem früheren § 209 StGB aus den polizeilichen Datenspeichern
  • 2004: Sexuelle Orientierung inkludiert in das Antidiskriminierungs-Gesetz
  • 2005: Homosexuelle als Opfergruppe des Nazi-Regimes anerkannt
  • 2009: Geschlechtsumwandelnde Operationen nicht länger Voraussetzung für den Geschlechtswechsel in den Personaldokumenten
  • 2009: Aufhebung von Verurteilungen des NS-Regimes wegen Homosexualität ermöglicht
  • 2010: Einführung der Eingetragenen Partnerschaft für lesbische und schwule Paare

Im Rückblick kann die Weigerung aller österreichischer Politiker, die Rechtslage während des Tribunals zu verteidigen, als stillschweigendes Eingeständnis angesehen werden, dass Österreichs Menschenrechtspolitik - bereits 1995 - nicht den international gültigen Standards entsprach. Jedoch ist bis heute nicht aufgeklärt, warum dennoch das Ende der Verfolgung und Diskriminierung der genannten Gruppen noch 15 weitere Jahre dauern musste.

Das Tribunal sollte das erste der Reihe sein. 1998 waren bereits umfassende Planungen für das 2. Internationale Menschenrechts-Tribunal gegen Rassismus und Xenophobie im Gange. Die Realisierung scheiterte an der fehlenden Finanzierung. Es besteht die Absicht, das kommende Tribunal der Todesstrafe zu widmen.

Nachweise[]

  1. Wiener Zeitung, 10. Juni 10, 1995: Österreich auf der Anklagebank: „Vor einem symbolischen Tribunal wurde am Freitag die Republik Österreich der Verletzung der Menschenrechte von Lesben und Schwulen durch das Strafrecht angeklagt. Das Boltzmann-Institut für Menschenrechte, sowie Schwulen- und Lesbenorganisationen fordern ein Ende der Diskriminierung.“
  2. Internationales Menschenrechts-Tribunal: 50 Jahre Zweite Republik - 50 Jahre Unterdrückung von Lesben und Schwulen. Wien, 9. bis 12. Juni 1995, Vorsitz: Freda Meissner-Blau und Gerhard Oberschlick. [Programmheft des Tribunals]
  3. Christian Michelides: Die Republik ist schuldig. Homosexualität und Strafrecht in Österreich, Teil 2: Die Verurteilungen seit 1950, in: Lambda Nachrichten 1/1996, 38-40
  4. Die Resolutionen des 4. Österreichischen Lesben- und Schwulenforums Alpenglühen, Diskussionsbeiträge und Entscheidungen des Plenums vom 1. November 1994, Wien 1996, 17
  5. Österreich: Appell des 'Internationalen Menschenrechts-Tribunals' gegen die Diskriminierung von Homosexuellen und Transsexuellen in den Medien. In: IRIS 1995-7:12/36, Datenbank für juristische Informationen (IRIS), Issue 7/1995.
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