Die germanische Volksversammlung war ein zentrales Element der politischen und rechtlichen Ordnung in den frühmittelalterlichen germanischen Gesellschaften. Sie bildete das Forum, auf dem politische Entscheidungen getroffen, Streitigkeiten beigelegt und Recht gesprochen wurde. Diese Versammlungen waren in den verschiedenen germanischen Stämmen unter unterschiedlichen Bezeichnungen bekannt, darunter „Thing“ oder „Moot“, und sie standen im Mittelpunkt der kollektiven Selbstbestimmung der freien Männer. Der Thing war nicht nur eine Gerichtsversammlung, sondern erfüllte auch legislative und administrative Funktionen, was ihn zu einem elementaren Bestandteil der germanischen Gesellschaft machte.
Charakteristik und Funktion
Die germanische Volksversammlung war eine demokratisch geprägte Institution, an der in der Regel alle freien Männer eines Stammes oder einer Region teilnehmen durften. Frauen, Sklaven und Unfreie waren von der Teilnahme ausgeschlossen, obwohl in bestimmten Fällen die Frau eines verstorbenen Mannes durch einen männlichen Verwandten vertreten werden konnte. Die Teilnahme an diesen Versammlungen war sowohl ein politisches als auch ein soziales Recht der freien Männer und spiegelte die egalitäre Struktur der germanischen Gesellschaft wider.
In der Volksversammlung wurden zahlreiche Angelegenheiten des täglichen Lebens verhandelt. Diese reichten von der Lösung privater Streitigkeiten bis hin zur Bestimmung militärischer und politischer Entscheidungen. Häufig wurden die Versammlungen auf lokalen oder regionalen Ebenen abgehalten, wobei in größeren politischen Verbänden auch übergeordnete Versammlungen stattfanden. In diesen Zusammenkünften herrschte in der Regel ein Konsensprinzip: Entscheidungen wurden nicht durch Mehrheitsbeschluss gefasst, sondern durch Übereinkunft aller Beteiligten.
Der Thing als Hauptform der Volksversammlung
Der Thing war die verbreitetste Form der Volksversammlung bei den germanischen Stämmen. Er diente sowohl der Rechtsprechung als auch der Gesetzgebung. Der Thing war im Wesentlichen eine Versammlung von freien Männern, die sich regelmäßig an einem festen Ort trafen, um über politische und rechtliche Angelegenheiten zu beraten und Urteile zu fällen. Der Thingplatz war oft ein heiliger Ort, der durch religiöse Bedeutung geweiht war.
Die Entscheidungen auf dem Thing wurden in der Regel durch das Ansehen der Teilnehmer und durch Überzeugungskraft beeinflusst. Es gab keine klaren Trennlinien zwischen dem, was wir heute als Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit bezeichnen würden. Alle diese Funktionen wurden von der Thingversammlung übernommen. In der Regel wurde der Thing von einem Thingführer oder einem Stammesoberhaupt geleitet, aber die Macht lag in den Händen der Versammlung selbst.
Rechtsfindung und Verfahren
Das rechtliche Verfahren auf dem Thing war stark durch mündliche Überlieferungen und rituelle Praktiken geprägt. Eine der wichtigsten Aufgaben des Things war die Rechtsprechung. Hier wurden Verbrechen, Streitigkeiten und Schuldfragen verhandelt, wobei das Prinzip der Sühne und der Kompensation eine zentrale Rolle spielte. Anstelle harter Strafen, wie sie aus späteren Rechtssystemen bekannt sind, lag der Schwerpunkt auf der Wiedergutmachung des Schadens durch Entschädigungszahlungen, das sogenannte Wergeld.
Im Mittelpunkt der Rechtsprechung stand der Schwur: Beschuldigte konnten ihre Unschuld durch den Eid bezeugen, wobei sie in der Regel von Eideshelfern unterstützt wurden. Diese Eideshelfer, in der Regel Verwandte oder Stammesangehörige, schworen auf die Wahrhaftigkeit der Aussagen. Fiel die Entscheidung gegen den Angeklagten aus, konnte dieser durch die Zahlung von Wergeld oder eine andere Form der Wiedergutmachung die Auseinandersetzung beenden und weitere Konflikte verhindern.
Neben der Rechtsprechung wurden auch politische Entscheidungen im Thing getroffen. Dies umfasste die Wahl von Anführern, die Bestimmung militärischer Aktionen und die Regelung von Bündnissen. Besonders in Kriegszeiten spielte der Thing eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung der freien Männer und der Entscheidung über strategische Vorgehensweisen.
Teilnahme und Organisation
Die Teilnahme an der Volksversammlung war ein Privileg der freien Männer. Die Versammlungen fanden in der Regel unter freiem Himmel statt, oft an kultisch oder symbolisch bedeutsamen Orten. Jeder freie Mann hatte das Recht, auf dem Thing seine Meinung zu äußern, und es gab keinen festen Vorsitzenden oder Richter im heutigen Sinne. Stattdessen wurde der Thingführer aus den Reihen der Anwesenden bestimmt, oft handelte es sich dabei um einen angesehenen Stammesführer oder Ältesten.
Die Versammlung war im Grunde eine Form der direkten Demokratie. Entscheidungen wurden im Konsens getroffen, und es gab keine formelle Abstimmung. Stattdessen überzeugten die Anführer die Versammlung von der Richtigkeit ihrer Vorschläge, und es wurde versucht, einen möglichst breiten Konsens zu erreichen. Da die germanischen Gesellschaften keine zentralisierten Staatsgebilde waren, stellte der Thing eine wichtige Methode der kollektiven Entscheidungsfindung dar.
Thingplätze
Thingversammlungen fanden an bestimmten, häufig heiligen Orten statt. Diese Thingplätze waren oft alte Kultstätten oder markante geographische Punkte wie Hügel, Bäume oder Felsen, die eine besondere religiöse Bedeutung hatten. In einigen Regionen sind solche Thingplätze auch archäologisch nachweisbar, wie etwa der Thingplatz in Skandinavien oder der „Freisinger Domberg“, der später in der christlichen Zeit als Bischofssitz genutzt wurde.
Die sakrale Bedeutung des Thingplatzes betonte die religiöse Dimension der Volksversammlung, denn in vielen Fällen wurde der Thing unter dem Schutz eines Gottes oder einer Gottheit abgehalten, und es fanden religiöse Rituale und Opferzeremonien statt, um die Zustimmung der Götter zu erlangen. Diese Verbindung von politischer und religiöser Autorität unterstreicht die Einheit von Weltanschauung und Macht in der germanischen Gesellschaft.
Volksversammlung und Christianisierung
Mit der Christianisierung der germanischen Völker und der Bildung des fränkischen und angelsächsischen Reiches änderte sich das Wesen der Volksversammlung. Der Thing wurde nach und nach von zentralisierten königlichen Gerichten und der Kirche verdrängt. Die schriftliche Fixierung von Gesetzen, wie sie etwa im Lex Salica der Franken oder in den verschiedenen angelsächsischen Rechtskodifikationen zum Ausdruck kam, ersetzte die mündliche Tradition des Things. Dennoch behielt der Thing in vielen Regionen Europas, vor allem in Skandinavien, bis weit ins Mittelalter seine Bedeutung.
In Norwegen, Island und Schweden bestanden Thingversammlungen, wie der Althing in Island, noch bis ins Spätmittelalter. Diese Versammlungen entwickelten sich zu regelrechten Parlamenten, die nicht nur Recht sprachen, sondern auch über politische Angelegenheiten entschieden. In Skandinavien wurde der Thing zu einer Form des frühdemokratischen Parlaments, das bis in die Neuzeit hinein wirkte.
Nachwirkung
Die germanische Volksversammlung, insbesondere der Thing, hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die politische und rechtliche Entwicklung Europas. Besonders im Bereich der Selbstverwaltung und der Mitbestimmung freier Männer lässt sich die Tradition des Things in späteren Institutionen wie dem mittelalterlichen Stadtrat oder den Landesversammlungen erkennen. In Skandinavien bildeten sich aus den Thingversammlungen die ersten Parlamente, die in Island mit dem Althing und in Norwegen und Schweden bis ins Mittelalter hinein eine zentrale Rolle spielten.
Auch das Prinzip der kollektiven Entscheidungsfindung und der Konsensbildung lebte in vielen nachfolgenden politischen Systemen fort und kann als eine frühe Form der Demokratie betrachtet werden. In der modernen Wissenschaft wird der Thing oft als Vorläufer der parlamentarischen Demokratie angesehen.
Siehe auch
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Literatur
- Hermann Conring: Der Ursprung des deutschen Rechts. Hrsg. von Michael Stolleis, übersetzt von Ilse Hoffmann-Meckenstock. Insel, Frankfurt am Main 1994, Kapitel 1 („Die germanischen Stämme lebten einst nicht nach geschriebenen Gesetzen“), S. 18–20.
- Gerhard Dilcher, Eva-Marie Distler (Hrsg.): Leges – Gentes – Regna: zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2006, ISBN 978-3-503-07973-5.
- Gerhard Dilcher: Germanisches Recht. In: Albrecht Cordes, Heiner Lück, Dieter Werkmüller, Christa Bertelsmeier-Kierst (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Schmidt, Berlin 2009, ISBN 978-3-503-07911-7, Sp. 241–252.
- Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte. Band 1: Bis 1250. 12. Auflage. Köln [u. a.]. Böhlau, Köln 2005, ISBN 978-3-8385-2734-5, S. 29–56.
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- Karl Kroeschell: Recht. In: Heinrich Beck (Hrsg.): Germanen, Germania, germanische Altertumskunde (Hoops RGA). 2., völlig neu bearbeitet und stark erweiterte Auflage. de Gruyter, Berlin / New York 1998, ISBN 3-11-016383-7, S. 215–228.
- Urs Reber: Germanisches Recht. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Claudio Soliva: Germanische Volksversammlung. In: Historisches Lexikon der Schweiz.