Germania ist der moderne Titel eines ethnografischen Werkes, das der römische Historiker Tacitus um das Jahr 98 n. Chr. verfasste. Der vollständige lateinische Titel lautet „De origine et situ Germanorum“ („Über Ursprung und Lage der Germanen“). In diesem Werk beschreibt Tacitus die geografische Lage, die gesellschaftlichen Sitten und Bräuche sowie die politischen Verhältnisse der germanischen Völker, wie sie den Römern zur Zeit des frühen Römischen Reiches bekannt waren. Die „Germania“ gilt als eine der wichtigsten antiken Quellen über die Germanen und hatte großen Einfluss auf das Germanenbild in späteren Jahrhunderten.
Inhalt
Tacitus' „Germania“ ist in 46 Kapitel gegliedert und lässt sich in zwei Hauptteile unterteilen. Die ersten Kapitel (1 bis 27) behandeln allgemeine Informationen über das Land und die Gesellschaft der Germanen, während die späteren Kapitel (28 bis 46) sich auf einzelne Stämme und ihre Besonderheiten konzentrieren.
Geografie und allgemeine Beschreibung
In den ersten Kapiteln beschreibt Tacitus die geografische Lage Germaniens als ein weites Land, das von Flüssen wie dem Rhein, der Donau und der Weichsel begrenzt wird. Im Norden reicht es bis zum „Ozean“, also zur Nordsee und Ostsee. Tacitus hebt die Unzugänglichkeit und Wildheit der Landschaft hervor und betont, dass das Land von dichten Wäldern und Sümpfen geprägt sei.
Tacitus beschreibt die Germanen als ein Volk, das sich klar von den benachbarten Völkern unterscheide. Er erwähnt insbesondere ihre „reinrassige“ Abstammung, da sie nicht durch Heiraten mit fremden Völkern „vermischt“ seien. Die Germanen gelten für Tacitus als frei und unverdorben, aber auch als primitiv und kriegerisch.
Sitten und Gesellschaft
In den Kapiteln 4 bis 27 geht Tacitus auf die Lebensweise und Sitten der Germanen ein. Er beschreibt sie als freiheitsliebende Menschen, die großen Wert auf Unabhängigkeit und Mut legen. Die politische Organisation der Germanen war für Tacitus in „Könige“ und „Fürsten“ unterteilt, wobei die Könige durch ihre Abstammung, die Fürsten hingegen durch ihren Mut und ihre Führungsqualitäten bestimmt wurden. Entscheidungen wurden in Volksversammlungen getroffen, bei denen alle freien Männer das Recht zur Mitbestimmung hatten.
Die Germanen lebten nach Tacitus in dörflichen Siedlungen und praktizierten Landwirtschaft, Jagd und Viehzucht. Sie besaßen keine Städte im römischen Sinne, sondern wohnten in einfacheren Häusern, oft weit voneinander entfernt. Auch das Rechtswesen der Germanen beschreibt Tacitus: Verbrechen wurden durch Bußgeld oder Blutrache gesühnt, je nach Schwere der Tat.
Eine besondere Rolle spielte bei den Germanen die Religion. Tacitus berichtet, dass die Germanen Naturgötter verehrten, die weder in menschlicher Gestalt noch in Tempeln verehrt wurden. Stattdessen fanden die religiösen Riten oft in heiligen Hainen oder Wäldern statt.
Stämme und Regionen
In den Kapiteln 28 bis 46 beschreibt Tacitus die verschiedenen germanischen Stämme und deren Eigenheiten. Er nennt unter anderem die Sueben, Chatten, Cherusker, Markomannen, Langobarden, Goten und Vandalen. Tacitus stellt sie teils als Verbündete, teils als Gegner der Römer dar, wobei er ihre kriegerischen Fähigkeiten und die unterschiedliche politische Struktur der Stämme hervorhebt.
Ein besonderer Fokus liegt auf den Sueben, die Tacitus als den größten und mächtigsten der germanischen Stämme beschreibt. Er hebt auch den Stamm der Bataver hervor, die als besonders tapfer gelten und sich in der Nähe des Rheins niedergelassen hatten.
Frauen und Familie
Tacitus schildert die Rolle der Frauen bei den Germanen als besonders geachtet. Sie werden als tugendhaft und treu dargestellt, und ihre Keuschheit und Fruchtbarkeit wird als wichtig für die Stabilität des Volkes angesehen. Tacitus hebt hervor, dass die Germanen Monogamie praktizierten und die Ehe heilig war. Frauen hatten bei den Germanen eine gewisse gesellschaftliche Autorität, und Tacitus beschreibt Fälle, in denen Frauen die Krieger in den Kampf begleiteten und sie ermutigten.
Ein weiteres wichtiges Element der germanischen Gesellschaft war die Erziehung der Kinder. Die Jungen wuchsen ohne großen Luxus auf, um sie zu harten Kriegern zu formen. Auch die Gastfreundschaft war ein zentrales Element der germanischen Kultur. Fremde wurden häufig großzügig aufgenommen und bewirtet.
Quellenwert und Rezeption
Die „Germania“ von Tacitus ist für Historiker eine der wichtigsten Quellen über das Leben und die Kultur der Germanen im 1. Jahrhundert n. Chr. Tacitus war selbst nie in Germanien und stützte sich wahrscheinlich auf Berichte römischer Händler, Soldaten und Diplomaten. Daher ist es fraglich, inwieweit seine Darstellung der Germanen mit der Realität übereinstimmt. Moderne Historiker weisen darauf hin, dass Tacitus in seiner „Germania“ nicht nur eine ethnografische Beschreibung liefern wollte, sondern auch eine Kritik an der eigenen römischen Gesellschaft übte. Die Germanen werden oft idealisiert dargestellt, um die Korruption und Dekadenz der Römer zu kontrastieren.
Im Mittelalter und in der Neuzeit wurde die „Germania“ von Tacitus wiederentdeckt und spielte eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des modernen Germanenbildes, besonders im 19. Jahrhundert, als sie von nationalistischen Strömungen instrumentalisiert wurde. Insbesondere in Deutschland wurde Tacitus’ Werk als Beweis für eine besondere Ursprünglichkeit und Tugendhaftigkeit der Germanen herangezogen. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die „Germania“ häufig missbraucht, um rassistische Ideologien zu stützen.
Textüberlieferung
Das Werk wurde im Mittelalter über zahlreiche Handschriften überliefert. Im 15. Jahrhundert wurde eine bedeutende Handschrift in der Abtei Hersfeld wiederentdeckt und diente als Grundlage für viele spätere Ausgaben. Die älteste erhaltene Handschrift stammt aus dem 9. Jahrhundert. Über die Jahrhunderte hinweg wurde das Werk vielfach kommentiert und übersetzt.
Siehe auch
- Germania des Tacitus | Vollständiges Werk in der Encyclopædia
Enzyklopädien & Lexika
Encyclopædia Britannica
- Germania — work by Tacitus | Encyclopædia Britannica (Engl.)
Wikipedia
- Germania (Tacitus) | Wikipedia
Literatur
Germanen allgemein
- Bruno Bleckmann: Die Germanen. C.H.Beck, München 2009, ISBN 3-406-58476-4.
- Ulrike Peters: Die Germanen. Marix Verlag, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-86539-989-2.
- Walter Pohl: Die Germanen. 2. Auflage. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2004, ISBN 3-486-56755-1.
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- Allan A. Lund: Zum Germanenbegriff bei Tacitus. In: Heinrich Beck (Hrsg.): Germanenprobleme in heutiger Sicht (= Reallexikon der Germanischen Altertumskunde – Ergänzungsbände 1). 2. Aufl. De Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016439-6, S. 53–87.
- Günter Neumann, Henning Seemann (Hrsg.): Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Teil 2. Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Nord- und Mitteleuropas im Jahr 1986 und 1987. Göttingen 1992, ISBN 3-525-82482-3 (AbhGöttingen 195).
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- Dieter Timpe: Romano-Germanica: gesammelte Studien zur Germania des Tacitus. Teubner, Stuttgart und Leipzig 1995, ISBN 3-519-07428-1.
Rezeption der Germania
- Gerhard Binder: Vom Schicksal einer Schicksalsschrift der Deutschen im 19. Jahrhundert. Zur Germania des Tacitus. In: Manfred Jakubowski-Tiessen (Hrsg.): Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Sãkularisierung im 19. Jahrhundert. Gõttingen 2004, S. 26–47.
- Christopher B. Krebs: „… jhre alte Muttersprache … unvermengt und unverdorben“: Zur Rezeption der taciteischen Germania im 17. Jahrhundert, in: Philologus 154 (2010) 119–139. (academia.edu)
- Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch – Die „Germania“ des Tacitus und die Erfindung der Deutschen. DVA, München 2012.
- Allan A. Lund: Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der „Germania“ des Tacitus im „Dritten Reich“. Universitätsverlag C. Winter Heidelberg GmbH, Heidelberg 1995.
- Dieter Mertens: Die Instrumentalisierung der „Germania“ des Tacitus durch die deutschen Humanisten. In: Heinrich Beck (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. De Gruyter, Berlin/New York 2004, S. 37–101 (online; PDF; 6,2 MB).
- Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19016-5.